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Kabinettstück Dezember 2018

Fatschenkind

»…und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe…« (Lukas 2,7)
Im Lukasevangelium wird die erste textile Bekleidung eines Neugeborenen vor über 2000 Jahren beschrieben. Sie besteht aus Tüchern und einem Band, der sogenannten Fatsche. Die vielen Jesukindlein, die in der Weihnachtszeit und speziell am Heiligen Abend ausgestellt werden, tragen so gesehen eine traditionelle Babytracht. Der Brauch, neugeborene Kinder ein halbes bis ganzes Jahr mit angelegten Ärmchen fest einzubinden, ist seit der Antike belegt und allen semitischen Kulturen zu eigen. Jean-Jacques Rousseau betont bereits 1762 in seinem pädagogischen Hauptwerk »Émile oder Über die Kindheit«, wie wichtig es für die Kinder sei, dass sie ihre Glieder frei bewegen könnten. Doch bis Anfang des 20. Jahrhunderts beharren auch in Oberbayern viele Mütter auf dem tradierten Einfatschen. Als Grund für diese Sitte wird oft angegeben, dass die Glieder und Knochen durch den stützenden Halt gerade wachsen würden. Wir wissen heute darum, wie wenig plausibel diese Erklärung ist. Vielmehr können psychologische Deutungen einen Hinweis liefern: Kleinstkinder werden bis weit in das 19. Jahrhundert nicht als gänzlich menschliche Wesen betrachtet. Bandagiert wie eine Mumie verbleiben die Neuankömmlinge gleichsam noch in einem vorgeburtlichen Zustand und durchlaufen ein Übergangsritual. Was uns heute sehr fremd erscheint, findet sich anschaulich noch zur Weihnachtszeit als gewickeltes Jesuskind in der Krippe oder eben als Fatschenkindl. (AKW)


Abbildung:
Fatschenkind, Weihegabe als Opfer oder Dank für einen (un)erfüllten Kinderwunsch, Wachs, Bayern, 18. Jahrhundert
Sammlung Bezirk Oberbayern | Zentrum für Trachtengewand
Foto: Anita Karl-Holeczek

Ka·bi·nett·stück
Substantiv [das]

1. sehr geschicktes, erfolgreiches Handeln
2. besonders schöner, wertvoller Gegenstand

Das sogenannte Kabinettstück kann entweder ein ungewöhnlich geschicktes und erfolgreiches Handeln sein oder ein besonders schöner und wertvoller Gegenstand. Die zweite Definition trifft auf abertausende Exponate aus den Sammlungen des Zentrums für Trachtengewand zu. Ob Kleidungsstücke, Accessoires, Fotografien, Grafiken oder Bücher – in Benediktbeuern besitzt der Bezirk Oberbayern einen Schatz aus über drei Jahrhunderten. Um einen Einblick in die reichen Bestände zu geben, stellen wir jeden Monat ein Kabinettstück vor. Dabei können Materialien, die Seltenheit, das Muster oder die Geschichte hinter den Originalstücken im Vordergrund stehen.

Die Digitalisierung und Veröffentlichung unserer Sammlungen im Netz ist eine groß angelegte Arbeit, die noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Einen Vorgeschmack auf dieses Zukunftsprojekt bietet das monatlich präsentierte Kabinettstück.

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