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Neue Horizonte in der Trachtenforschung

Als ein Schwerpunkt des Zentrums für Trachtengewand des Bezirks Oberbayern steht die wissenschaftliche Erforschung regionaler Kleidungskultur in enger Beziehung und Wechselwirkung mit den Arbeitsbereichen Sammlung, Handwerkskunst und eigener Publikationen.
Hintergrund und Antrieb des Zentrums für Trachtengewand bildet die derzeitige Forschungslage, die weitgehend auf Arbeiten aus der Zeit vor 1950 basiert. In vielen Bereiche fehlen somit fundierte Erkenntnisse. Die Erforschung vestimentärer Phänomene mittels moderner Ansätze und Methoden zählt daher zu dem Kernauftrag und Selbstverständnis des Zentrums für Trachtengewand. Erst auf dieser Basis kann zeitgemäß und fundamentiert argumentiert, publiziert und beraten werden. Dies betrifft sowohl die Grundlagenforschung als auch die Forschung zu speziellen Themen.
Umgesetzt wird dieser Auftrag im Rahmen von eigenständigen oder gemeinschaftlichen Projekten. Gerade auch der interdisziplinäre Austausch und die vergleichenden Forschungen im internationalen Kontext sind für das Zentrum für Trachtengewand wichtige Bezugspunkte.


Übersicht der Forschungsschwerpunkte:

  • regionale Kleidungskultur in Oberbayern
  • vergleichende Forschungen im internationalen Kontext
  • interdisziplinäre Forschungsprojekte
  • Entwicklungen der aktuellen Trachtenmode
  • Auswirkungen der wachsenden multikulturellen und transkulturellen Einflüsse durch Migration, Urbanisierung und gesellschaftlichen Wandel
  • Vereinskultur im modernen Kontext unter Berücksichtigung soziokultureller Aspekte
  • Historie und Zukunft der Trachtenvereinskultur und vergleichbarer Gruppen
  • Wechselwirkung zwischen institutionalisierter Trachtenpflege, Trachtenmode und allgemeiner Mode
  • Schnittgestaltung, Materialkunde und handwerkliche Verarbeitung historischer Kleidungsstücke und Accessoires
  • die Rolle der Tracht im Nationalsozialismus



Zahlreiche Forschungsergebnisse liegen auch in gebundener Form vor.

Einen Überblick über die Publikationen des Zentrums für Trachtengewand finden Sie unter diesem Link.

Die blaue Weste

Unter den zahlreichen bemerkenswerten Neuzugängen unserer Sammlung sei hier beispielhaft auf die blaue Seidenweste von Lukas Danner verwiesen. Der Nadelmeister wurde 1828 in Schrobenhausen geboren und verstarb 1870 in Tittmoning. Bezeichnend für das modische Auftreten des jungen Schneiders sind, neben der biedermeierlichen Frisur, der schwarze Rock und die blaue Seidenweste im neuesten Schnitt. Ihr Stoff mit dem eingewebten schwarzen Blumenmuster wurde extra für die Vorderteile von Westen gewebt. Diese Webtradition stammt noch aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Das Besondere an dieser Schenkung ist, dass sowohl das Portrait von Lukas Danner, die originale Weste, die auf dem Portrait zu sehen ist, sowie eine Vielzahl von Archivalien, die seine Lebensgeschichte dokumentieren, ihren Weg zu uns fanden. Portraits und Lebensgeschichten sind aus adligen und großbürgerlichen Gesellschaftsschichten relativ häufig überliefert – aus dem bäuerlichen oder handwerklichen Milieu dagegen sehr selten. Dieser Umstand macht das Konvolut »Danner« so außergewöhnlich. Zu diesem zählen die Lebensdaten seiner Verwandten, seine Geburtsurkunde samt Taufschein, Schulzeugnisse, Impfscheine, die »Conzessions-Urkunde«, und Verlassenschafts-Inventare. Der Lehrbrief für das Nadlergewerk, datiert aus dem Jahr 1843, zeigt an, dass Lukas Danner im Alter von 12 Jahren bei Nadlermeister Hitl in Schrobenhausen einstand, und seine Lehrzeit mit 15 Jahren beendet.

Beim Lesen der Dokumente eröffnen sich höchst interessante Einblicke in die Lebensumstände jener Zeit. So steht beispielweise hinter der Information, dass das Baby noch am Tag seiner Geburt auf den Namen Lukas getauft wurde, die Vorsichtsmaßnahme, Kinder so schnell wie möglich christlich zu taufen. In Zeiten hoher Kindersterblichkeit sollte kein »Heidenkind« die Welt verlassen. Der »Schutzpocken-Impfungs-Schein« aus dem Jahr 1829 erzählt von einer brandgefährlichen viralen Infektionskrankheit, die unsere Vorfahren auch als »Blattern« bezeichneten. Wer weiß heute noch, dass bereits am 26. August 1807 in Bayern als weltweit erstem Land die Impfpflicht eingeführt wurde? In den Verlassenschafts-Inventaren wurden nach dem Tod eines Menschen seine gesamten Besitztümer aufgelistet. Neben größeren Gegenständen wie Bettstätten oder Stühlen sind darin minutiös einzelne Kochgeschirre und sogar Stoffreste aufgeführt. Dank dieser Listen war jeder Gegenstand dokumentiert und das Erbe konnte gerecht verteilt werden. Diese Inventare geben uns heute Aufschluss, was Menschen früher besessen haben, welche Kleidung sie trugen und wie sie ihre Wohnungen einrichteten.

Das Konvolut des Schneiders Lukas Danner umfasst neben seiner blauer Seidenweste die Geburtsurkunde samt Taufschein, Schulzeugnisse, Impfscheine, die »Konzessions-Urkunde«, Verlassenschafts-Inventare, sowie Danners Lehrbrief für das Nadlergewerk, datiert aus dem Jahr 1843.
Das Konvolut des Schneiders Lukas Danner umfasst neben seiner blauer Seidenweste die Geburtsurkunde samt Taufschein, Schulzeugnisse, Impfscheine, die »Konzessions-Urkunde«, Verlassenschafts-Inventare, sowie Danners Lehrbrief für das Nadlergewerk, datiert aus dem Jahr 1843
(Fotografie Peter Nitsch)
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