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Dezember 2021

Profilschärfung: Forschung

»Tracht« ist ein Wort, dessen Bedeutung klar zu sein scheint. Es zeigt sich jedoch, dass der Begriff mit unterschiedlichen, oft sehr vagen Vorstellungen, aufgeladen ist. Über das, was Tracht ist oder sein soll, gibt es unzählige mehr oder weniger fundierte Meinungen. Sicher ist nur, dass durch die Jahrhunderte hinweg mit Tracht erst einmal generell Bekleidung, also das Getragene an sich, gemeint ist. Dazu kommen Zuschreibungen, dass Tracht einen bestimmten Stand kenntlich macht. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert begann sich der Begriff weiter aufzuladen – ein Vorgang, der bis heute anhält. Echte und vermeintliche Traditionen, eine bestimmte Lebensart und gemeinsame kulturelle Identität werden ebenso mit Tracht verbunden wie bizarre Klischees und dogmatische Regeln. Dazu zählt jene, auf welcher Seite die Schürzenschleife zu binden sei. Selbst moralische und ideologisch besetzte Vorstellungen wie die, ob ein Mädchen in Tracht geschminkt sein oder wer überhaupt Tracht tragen darf (beziehungsweise muss), bestehen fort.

Ein kontroverses Forschungsfeld

Es stellt sich die Frage, ob zu einem derart verworrenen Thema überhaupt geforscht werden kann und soll? Ein klares »Ja« ist die Antwort. Erstens macht die wissenschaftliche Arbeit erst richtig Spaß, wenn es kontroverse Meinungen gibt. Zweitens ist das Feld der regionalen Kleidungskultur im Gegensatz zur Mode der Oberschicht alles andere als zufriedenstellend bearbeitet. Während es über die Jahrhunderte hinweg viele Zeugnisse und hervorragende Arbeiten zur oberschichtlichen Kleidungskultur gibt, liegen für die bäuerliche und bürgerliche Kleidung sehr wenige belastbare Erkenntnisse vor.
Grundlegende Großzahlforschungen gibt es in Oberbayern erst seit Mitte der 1980er Jahre durch Alexander Karl Wandinger. Diese gingen zuerst von dem Bayerischen Landesverein für Heimatpflege aus, nachfolgend von der Heimatpflege des Bezirks Oberbayern. Einzelne Regionen oder Themenbereiche wurden zuvor zum Beispiel durch Gislind Ritz, Oskar v. Zaborsky-Wahlstätten, Dr. Gerhard Maier und dem ehemaligen Bezirksheimatpfleger Paul Ernst Rattelmüller behandelt und publiziert.

Tracht ist ein Konstrukt

Wie lässt sich die fragmentarische Forschungslage zu einem kulturell so bedeutsamen Phänomen erklären? Diese liegt wohl zunächst am vollkommen irrigen Ansatz, dass es sich bei Tracht um ein Gegenteil von Mode handelt oder Tracht gar nichts mit der Mode zu tun hat. Tracht ist ein Konstrukt, und nicht eindeutig zu definieren. Schlicht und ergreifend handelt es sich um modische Entwicklungen bestimmter Zeiten und sozialer Schichten, die mit Zuschreibungen versehen entweder eingefroren wurden oder sich weiterentwickeln durften. Ein weiterer Grund ist die Scham darüber, dass Tracht in der Zeit des Nationalsozialismus politisch und ideologisch benutzt wurde. Damit galt das Thema per se als Paria in den universitären Disziplinen. Gleichzeitig wird die Deutungshoheit seit rund 100 Jahren von Personen aus dem Kreis der institutionalisierten Trachtenpflege beansprucht, die durchaus kantige Dogmen erließen und die »echte« Tracht beschworen, ohne eine systematische Recherche, Analyse und Auswertung von Daten anzustrengen. Die Mission, echte Tracht versus Trachtenmode zu etablieren, erzeugte und erzeugt auch heute noch ein vollkommen destruktives Bild und Wortfeld.

Für einen inklusiven Zugang

Im Zentrum für Trachtengewand machen wir hier keine Unterschiede, sondern verfolgen einen inklusiven Ansatz. Unser wissenschaftliches Interesse gilt ebenso dem fantasievoll gestalteten bäuerlichen Gewand aus der Zeit um 1830 wie der teils erfrischend exzentrischen Trachtenmode auf dem Oktoberfest. Das Spiel mit Farben und Formen zu ergründen, wissenschaftliche Ergebnisse zu liefern, diese zu publizieren und Tracht als lebendige Kultur zu befördern war und bleibt unser Ziel, welches nicht zuletzt auch mit der Neufassung unseres Namens »Zentrum für Trachtengewand« noch deutlicher kommuniziert wird.

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